Gute Aussichten
Kunstvoll drapiert
Hugo Egon Walther seine letzten Accessoires am „Davinci-Pur“ Bett der
Bettenabteilung im größten Möbelgeschäft in Saarbrücken. Beim Anblick des
verschnörkelten Kopfendes gerät er ins Träumen, während er die rosa
Handschellen an die Metallstreben hängt. Auch das Fußteil besticht durch
verzierte Elemente. Daran prangen ebenfalls rosa Handschellen. Dieses Jahr
setzt er seine Dekoration auf Fesselspiele. Hugo will die Attraktion des
morgigen Tages sein. Dass ausgerechnet der 1. Mai „Tag der Arbeit“ genannt
wird, hat arbeitsreiche Folgen für ihn, seit er der Abteilungsleiter der Bettenabteilung
ist. Eine Mai-Tour ist nicht mehr für ihn drin. Der Geschäftsführer, Thomas
Bechtel, hält es für einen besonders raffinierten Schachzug, den „Tag der offenen
Tür“ ausgerechnet am diesem Tag zu veranstalten.
Aber das wird bald
ein Ende haben.
Zufällig weiß Hugo,
dass sich Bechtel jeden Morgen vor Arbeitsbeginn eine kleine Flasche Pikkolo
genehmigt – dazu noch eine von der ganz billigen Sorte mit Schraubverschluss. Genau
genommen ist dieser Mann Alkoholiker, nur hat bisher niemand etwas bemerkt. Offensichtlich
besoffen ist er nie – er trinkt wohl immer nur bis zu einem gewissen Level.
Trotzdem sieht Hugo in diesem Mann keine Kompetenz zum Geschäftsführer. Aber
anzeigen will er ihn nicht. Das ist zu hinterhältig. Er hat einen besseren
Plan. Einen viel besseren!
Seine Frau
leidet seit einigen Jahren an Herzinsuffizienz, woraus sie keinen Hehl macht.
Täglich erinnert sie ihn daran und macht ihn sogar noch dafür verantwortlich.
Daher sind Herzglykoside immer bei ihm zuhause. Zufällig weiß Hugo, dass dieses
Medikament - falsch angewendet - auch tödlich sein kann. Man denke nur an Pflanzen
wie „Fingerhut“ oder „Maiglöckchen“. Bei einer Überdosierung kommt es zu Herzkammerflimmern
und im Falle des ewig angetrunkenen Geschäftsführers ist damit zu rechnen, dass
der das nicht überlebt. Dann steht Hugo nichts und niemand mehr im Weg, selbst
Geschäftsführer zu werden.
Schon morgen
früh wird sich sein Leben von Grund auf ändern, denn er hat gerade eine große
Anzahl der Tabletten in der obligatorischen Pikkoloflasche aufgelöst.
Summend geht er durch
die dunklen Lagerräume. Wie immer ist er der letzte der Belegschaft. Aber das
macht ihm nichts aus. Er hat noch etwas vor: Heute ist Hexennacht.
Er erhofft sich ein
wildes Abenteuer. Seit der Herzkrankheit ist mit seiner Alten, mit Mathilde,
nichts mehr los im Bett. Sein Testosteron hat sich inzwischen in ungeahnte
Ausmaße angestaut. Und das will er heute Nacht freilassen. Die Vorstellung von
nackten Weibern, die bei Walpurgisnacht um ein Feuer tanzen und dabei alles
schütteln, was sein Männerherz … ach Quatsch … was seinen „kleinen Hugo“
aufrichtet, lässt ihn schmunzeln. Zwar würde in Saarbrücken keine Schar von
nackten Weibern herumlaufen. Dafür hoffentlich welche von der willigen Sorte ...
Den Rest der Herztabletten
steckt er in seine Hosentasche. Wegwerfen wäre Verschwendung - seine Frau braucht
sie noch.
Kaum hat er den
Hinterausgang abgeschlossen, befindet er sich mitten im Treiben der
Landeshauptstadt. Das Geschäft liegt auf der Nauwies. Hier gibt es alles, was
sein Herz begehrt.
Er geht los und sieht
sich direkt auf drei Frauen zugehen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.
Eine ist in ein hautenges, durchsichtiges Kleid gehüllt. Darunter ist sie
nackt. Hugo blinzelt geblendet. Die Dame in der Mitte hat sich als Hexe
kostümiert. Die Verkleidung regt seine Fantasie bis ins Unermessliche an. Er
malt sich aus, ihr alles vom Leib zu reißen, um zu sehen, was sich darunter
verbirgt. Aber nicht zu vergessen die Dritte im Bunde. Sie hat ihre blonden Haare
zu mädchenhaften Zöpfen geflochten. Ihr Gesicht betont ein aufdringliches Make
up. Darunter trägt sie … ein Kinderkleid – ein Anblick, der ihn fesselt. Nichts
daran passt zusammen und doch ist es dieser Gegensatz von kindlich und lasziv,
der ihn so antörnt.
Er spürt die
Blicke der drei Frauen auf sich und kann sein Glück gar nicht fassen. Sie meinen
tatsächlich ihn.
„Na Süßer!
Samenstau?“, fragt Zopfliesel.
Hugo verschluckt
sich über diese Direktheit. Aber „Klein-Hugo“ reagiert professioneller. Die
Hose wird verdammt eng.
„Kann es sein,
dass du gerade aus dem Möbelhaus gekommen bist?“, haucht die Dame hinter der Hexenmaske
in sein Ohr.
„Ja! Ich bin
dort der Abteilungsleiter für die Bettenabteilung.“
„Bettenabteilung?!?!
Wie finde ich das?“, schnurrt die Halbnackte. „Dann brauchen wir ja gar nicht
zu suchen, wo wir uns amüsieren wollen.“
Die drei lachen
aus vollem Halse. Hugo stimmt mit ein. Schon haben sie ihn in ihrer Mitte,
drehen ihn um und führen ihn dorthin zurück, wo er gerade hergekommen ist. Ohne
zu zögern nimmt er den Schlüssel aus der Jackentasche, sperrt die Hintertür auf
und lässt die Damen eintreten.
In der Bettenabteilung
schaltet er gedämpftes Licht ein. Die Frauen sehen die Requisiten, ihre Augen
leuchten. Hastig steuert Hugo das Kopfende des „Davinci-Pur“ Bettes an, um die Handschellen
zu entfernen, als er auf dem Bett landet. Aufstehen ist nicht mehr möglich, schon
sitzt die Maskierte auf ihm. Ihr Gewicht drückt ihn nieder. Ruck zuck ist er
nackt.
Warum wehrt er
sich nicht? Weil es ihm gefällt!
Die drei heißen
Feger packen ihn an Armen und Beinen und fixieren ihn im Nu ans Bett. Regungslos
und ausgeliefert liegt er vor ihnen. Er wundert sich über sich selbst, wie
schön er diese Situation empfindet. Er kann es kaum noch erwarten, dass sie
sich auf ihn stürzen und an ihm verlustieren.
Doch das
passiert nicht …
Wie Salzsäulen
stehen sie um das Bett herum und starren auf ihn herab. Langsam wird ihm
mulmig.
„Klein-Hugo“ hat
die Lage bereits begriffen und verkriecht sich.
„Warum tut ihr
nichts?“, wagt er endlich zu fragen.
„Hast du
wirklich geglaubt, dass die Frauen aus Saarbrücken ausgerechnet einen Mann wie
dich abschleppen?“
Diese Stimme kommt
ihm bekannt vor. Sein Blut schießt in die falsche Richtung, nämlich in den
Kopf. Was geht hier vor?
Schon kommt die
Antwort. Die Hexe reißt sich die Maske vom Gesicht und vor ihm steht seine Frau
Mathilde. Die beiden anderen sind bereits verschwunden.
„Was soll das?“
Hugo zittert.
„Du willst doch morgen
die Hauptattraktion des Tages sein“, erklärt Mathilde süffisant. „Das wird dir
gelingen!“
Lachend
stolziert sie davon und lässt Hugo Egon Walther tatsächlich allein in dieser
misslichen Lage zurück. Er ruft ihren Namen, bis sein Rufen in ein panisches
Schreien übergeht. Aber nichts passiert. Allein, nackt und gefesselt an das
teuerste Bett der Bettenabteilung, die er höchstpersönlich leitet, bleibt er
zurück. Er reißt an den Handschellen, die lediglich aus Plastik bestehen. Sie geben
nicht nach. Niemals hätte er für möglich gehalten, dass diese billigen Dinger
so stabil sind.
Ein Geräusch dringt
an sein Ohr.
Erschrocken öffnet
er die Augen und stellt fest, dass es inzwischen taghell ist. Er friert ganz
jämmerlich, was ihm bestätigt, dass er immer noch nackt ist.
Das Geräusch
kann er inzwischen zuordnen. Thomas Bechtel, der Geschäftsführer, ist durch den
Hintereingang hereingekommen. Noch nie hat er sich so nach diesem Mann gesehnt.
Er ruft seinen Namen. Doch nichts passiert. Sollte der tatsächlich seinen Pikkolo
einem echten Notfall vorziehen? Das wäre ungünstig. Wenn er ausgerechnet jetzt
und hier tot umfällt ... Hugo will sich die Folgen gar nicht ausmalen.
Wieder schreit
er Bechtels Namen. Wieder, wieder und wieder. Endlich wird eine Tür geöffnet! Jedoch
nicht die Tür zum Chefbüro, sondern die Haupteingangstür zum Geschäft.
Schon von weitem
sieht Hugo eine Frau auf ihn zusteuern. Er erkennt sie sofort: Es ist ausgerechnet
die Chefsekratärin. Aber egal! Hauptsache jemand kommt ihn aus seiner verzweifelten
Lage befreien. Aber was macht sie? Sie bleibt fünf Meter vor ihm stehen und
schreit, als sei er ein Gespenst. Das Schreien geht in ein wahnsinniges Kreischen
und dann in ein hysterisches Lachen über.
Meine Güte!
Peinlicher geht es nicht mehr.
Doch geht es …
Im gleichen
Augenblick wankt Thomas Bechtel auf ihn zu – das Gesicht kalkweiß, ein
Schweißfilm auf seiner Haut und beide Hände auf die linke Brusthälfte gepresst.
Als sein Blick auf Hugo trifft, fällt er tot um.
Das Lachen der
Sekretärin geht wieder in lautes Kreischen über.
Wenige Sekunden
später ist Hugo umringt von Menschen, die lachen, reden und schreien. Etliche Handys
werden auf ihn gerichtet und klicken. Hugo wünscht sich auf den Mond.
Irgendwann wird
eine Decke über ihn gelegt. Er glaubt fast zu träumen. Jemand schneidet die Plastikhandschellen
auf; er ist befreit. Doch der Traum wandelt sich schnell in den nächsten
Albtraum: Neben Sanitäter und Leichenbestatter taucht auch die Polizei auf.
Bechtel ist wirklich
im falschen Moment abgekratzt.
Hastig schnappt
Hugo nach seiner Hose, da fallen die restlichen Tabletten aus der vorderen Tasche
heraus. Einer der Polizisten ist schneller als er und hebt sie für ihn auf.
Zwei Tage
später.
Die Sonne taucht
seine kleine Zelle in ein freundliches Licht. Hugo sitzt auf der Pritsche und liest
die BILD-Saarland. Das Foto nimmt das gesamte Deckblatt ein. Darauf ist er
nackt und ans Bett gefesselt zu sehen. Der Anblick ist so entwürdigend, dass er
sich darüber freut, jetzt auf dem höchsten Berg von Saarbrücken zu sein, auf
der sogenannten „Bellevue“, im Gefängnis „Lerchesflur“. Mit lebenslänglich kann
er mindestens rechnen. Aber hier ist er ganz anonym der „Häftling aus Zelle
Sieben“. Er wirft die Zeitung in die Ecke, stellt sich ans Fenster und genießt durch
die Gitterstäbe diese guten Aussichten.
© Elke Schwab
Das war unsere Hexentruppe an Hexennacht!
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